ADHS bei Frauen in der Perimenopause: Warum Symptome ab 40 zunehmen können

Oct 05, 2025 |
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Vergesslichkeit, Reizbarkeit, Erschöpfung? In der Perimenopause wird ADHS oft erstmals sichtbar

ADHS galt lange Zeit als typische Kindheitsstörung bei Jungen – verbunden mit Hyperaktivität und Impulsivität. Es wird definiert als neurobiologische Entwicklungsvariante, bei der bestimmte Botenstoffsysteme, vor allem das Dopamin-System, anders reagieren als bei neurotypischen Menschen.

Das Gehirn verarbeitet dadurch Reize, Motivation und Aufmerksamkeit anders. Entstehen kann ADHS durch ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung, frühkindlicher Entwicklung, neurobiologischer Reifung und Umweltfaktoren. Besonders das Dopamin-System im präfrontalen Kortex, zuständig für Planung, Impulskontrolle und Antrieb, ist bei Betroffenen oft weniger stabil reguliert. Studien zeigen: Frühgeburt, Schwangerschaftsstress, bestimmte Nährstoffmängel oder psychosoziale Belastungen in der Kindheit erhöhen das Risiko zusätzlich.

„ADHS ist eine hoch vererbbare, komplexe neuropsychiatrische Störung mit deutlichem Einfluss genetischer Faktoren – mehr als 70 % der Risikovarianz lässt sich auf genetische Unterschiede zurückführen.“
(Demontis et al., 2019)

Was lange übersehen wurde: Bei Frauen zeigt sich ADHS anders. Weniger durch Hyperaktivität, häufiger durch Unruhe im Kopf, Reizoffenheit, Vergesslichkeit, emotionale Reizbarkeit oder das Gefühl, mit einfachen Aufgaben überfordert zu sein. Diese Symptome bleiben oft bis ins Erwachsenenalter unentdeckt, bis sie sich in bestimmten Lebensphasen plötzlich verstärken. Eine davon ist die Perimenopause.

Was passiert in der Perimenopause?

Die Perimenopause ist die hormonelle Übergangszeit vor der letzten Regelblutung. Sie beginnt oft ab Mitte/Ende 30, dauert mehrere Jahre und ist geprägt von unregelmäßigen Eisprüngen, schwankendem Estrogen, Cortisol und sinkendem Progesteron.

Das ist der biologische Zusammenhang:

  • Estradiol moduliert die Dopaminwirkung im Gehirn - sinkt es, wird die kognitive Kontrolle instabiler.

  • Progesteron wirkt beruhigend über das GABA-System – fehlt es, steigt die Reizanfälligkeit.

  • Schlafstörungen, die durch hormonelle Schwankungen begünstigt werden, verstärken die Symptome zusätzlich.

  • Blutzuckerschwankungen, Entzündungen und oxidativer Stress können zunehmen. Bei starker Insulinresistenz, Mangelernährung oder chronischer Erschöpfung sinkt die neuronale Energieverfügbarkeit – mit Folgen für Aufmerksamkeit, Planung und Impulsregulation.

Viele Frauen beschreiben in dieser Zeit das Gefühl, „nicht mehr zu funktionieren“, obwohl sie das vorher über Jahre geschafft hatten.

Was Frauen mit ADHS in der Perimenopause erleben

Eine große internationale Übersichtsarbeit (Kooij et al., 2025) zeigt, dass viele Frauen mit ADHS gerade in den 40ern eine massive Zunahme ihrer Symptome beschreiben.
Laut Studie berichten:

  • 70 % über eine „lebensverändernde Verschärfung“ der ADHS-Symptomatik

  • 50 % stuften ihre Symptome in dieser Phase als extrem ein

Besonders belastend sind dabei:

  • Prokrastination und Zeitmanagement-Probleme

  • Erschöpfung und Schlaflosigkeit

  • emotionale Reizbarkeit

  • Gedächtnisstörungen 

  • das Gefühl, „ständig überfordert“ zu sein

Diese Symptome sind nicht neu, aber sie werden sichtbarer, weil hormonelle Puffer fehlen und gleichzeitig Alltagsbelastung und Erwartungsdruck hoch sind. 

„Hormonschwankungen in der Perimenopause können die exekutiven Schwächen von Frauen mit ADHS deutlich verstärken – auch dann, wenn die Symptome zuvor gut kompensiert wurden.“(Kooij et al., 2025)

Warum ADHS oft erst jetzt erkannt wird

ADHS wird bei Frauen häufig spät diagnostiziert. Viele wurden in ihrer Kindheit als verträumt, sensibel oder chaotisch beschrieben, aber nie auffällig genug für eine Diagnose. Stattdessen haben sie sich angepasst, organisiert, perfektioniert. Erst wenn diese Strategien nicht mehr greifen, etwa in der hormonellen Umbruchphase, kommt es zur „Diagnose auf den zweiten Blick“.

„Mädchen und Frauen werden bei ADHS systematisch unterdiagnostiziert – sie nutzen häufiger kompensatorische Strategien und fallen seltener durch störendes Verhalten auf.“
(Thapar & Cooper, 2016)

Wichtig ist die Abgrenzung: Nicht jede kognitive Erschöpfung in der Perimenopause ist ein ADHS. Aber wenn typische Muster schon in früher Kindheit bestanden – etwa Aufschieberitis, starke Reizempfindlichkeit oder Probleme mit Organisation und Struktur – lohnt eine genauere Betrachtung.

Was sagt die bildgebende Forschung?

Neuere Studien mit bildgebenden Verfahren zeigen: Bei ADHS sind insbesondere die Netzwerke zwischen präfrontalem Kortex, Basalganglien und Kleinhirn funktionell verändert – also genau die Strukturen, die bei komplexen Aufgaben aktiviert werden.

„ADHS ist mit einer gestörten Integration der fronto-striatalen Netzwerke verbunden – entscheidend für Aufmerksamkeitssteuerung, Arbeitsgedächtnis und Impulskontrolle.“
(Parlatini et al., 2023)

Diese neuronalen Schwächen treffen in der Perimenopause auf eine Phase, in der hormonelle Schwankungen genau dieselben Netzwerke zusätzlich beeinträchtigen. Das erklärt, warum kognitive Symptome in dieser Zeit plötzlich in den Vordergrund rücken können.

ADHS-ähnliche Symptome durch hormonelle Verhütung

Nicht nur hormonelle Übergangsphasen wie die Perimenopause können ADHS-Symptome verstärken oder sichtbar machen – auch die Einnahme hormoneller Verhütungsmittel kann eine ähnliche Wirkung entfalten. Besonders betroffen sind Frauen, die eine hohe Sensitivität im Bereich der Neurotransmitter-Regulation (v. a. Dopamin, Serotonin und GABA) mitbringen – etwa bei einer genetischen Disposition für ADHS. 

Die Einnahme von hormonellen Antibabypräparaten kann das natürliche Gleichgewicht der Geschlechtshormone im Gehirn verändern. 

Auch die sogenannte HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-Achse), die unsere Stressverarbeitung reguliert, wird unter hormoneller Verhütung beeinflusst. Studien zeigen, dass dies die Stimmung, die emotionale Stabilität und die Reizfilterfähigkeit beeinträchtigen kann – also Funktionen, die auch bei ADHS eine zentrale Rolle spielen.

In einer großangelegten Kohortenstudie aus Dänemark zeigte sich ein signifikant erhöhtes Risiko für depressive Symptome und Antidepressiva-Verschreibungen bei jungen Frauen unter hormoneller Verhütung – ein Hinweis auf neuropsychologische Nebenwirkungen. Besonders bemerkenswert: Eine schwedische Studie von 2023 fand, dass Frauen mit ADHS unter hormoneller Kontrazeption ein bis zu fünfmal erhöhtes Risiko für depressive Verstimmungen hatten – unabhängig vom Präparatentyp.

Auch in den offiziellen Nebenwirkungslisten gängiger hormoneller Kontrazeptiva finden sich typische ADHS-nahe Symptome wie Nervosität, Konzentrationsprobleme, emotionale Labilität und Schlafstörungen.

Fazit

ADHS wird selten durch die Perimenopause verursacht – aber verstärkt sichtbar. Auch hormonelle Verhütungsmittel können sich ADHS-ähnlich auswirken oder eine bestehende ADHS-Symptomatik sichtbarer machen. 

Umso wichtiger ist eine präzise Diagnostik – besonders bei bereits vorhandenen Auffälligkeiten in Stimmung, Aufmerksamkeit oder Stressverarbeitung.

Quellen:

  1. Demontis, D. et al. (2019). Discovery of the first genome-wide significant risk loci for ADHD. Nature Genetics, 51(1), 63–75.
    👉 https://doi.org/10.1038/s41588-018-0269-7

  2. Thapar, A., & Cooper, M. (2016). Attention deficit hyperactivity disorder. The Lancet Psychiatry, 3(2), 171–178.
    👉 https://doi.org/10.1016/S2215-0366(15)00586-1

  3. Barth, C., Villringer, A. & Sacher, J. (2015). Sex hormones affect neurotransmitters and shape the adult female brain during hormonal transition periods. Frontiers in Neuroscience, 9:37.
    👉 https://doi.org/10.3389/fnins.2015.00037

  4. Kooij, J.J.S. et al. (2025). Research advances and future directions in female ADHD: the lifelong interplay of hormonal fluctuations with mood, cognition, and disease. Frontiers in Global Women's Health, 6:1613628.
    https://doi.org/10.3389/fgwh.2025.1613628

  5. Skovlund, C. W. et al. (2016). Association of hormonal contraception with depression. JAMA Psychiatry, 73(11), 1154–1162.

    👉 https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2016.2387

  6. Lundin, C. et al. (2023). Hormonal contraceptive use and risk of depression among young women with attention-deficit/hyperactivity disorder. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry, 62(6), 665–674.
    👉 https://doi.org/10.1016/j.jaac.2022.07.847

  7. Barth, C., Villringer, A. & Sacher, J. (2015). Sex hormones affect neurotransmitters and shape the adult female brain during hormonal transition periods. Frontiers in Neuroscience, 9:37.
    👉 https://doi.org/10.3389/fnins.2015.00037

  8. Beipackzettel Valette® (ethinylestradiol/dienogest), Stand 2023.
    👉 Informationen zu Nebenwirkungen abrufbar über: https://www.fachinfo.de